mein Blick
 

Danke allen, die sich inspirieren lassen und mich inspirieren.

Spielraum

Ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden und bin ganz ruhig. Ich fühle mich verbunden mit dem Raum. Die Holzgeräte zum Klettern für Kleinkinder, entworfen von der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler, stehen an ihrem Platz: die Krabbelkiste mit dem eingehängten Rutschbrett, mir am nächsten; die Kiste mit zwei schiefen Ebenen, eine mit Teppichstoff bespannt, die andere in glattem Holz; dahinter die Dreiecksleiter, hüfthoch; der Tunnel mit den seitlichen Gitterstäben und die Würfel zum Durchkriechen oder Raufklettern. Wie oft habe ich in den letzten sechzehn Jahren den Raum vorbereitet? Wie oft die Körbe mit Bällen, Bechern, Holzscheiben, Würfeln, Zylindern, Holzkegeln, Holzringen in verschiedenen Größen, Eierbechern und Bechern bereitgestellt, sie zurecht gerückt, bis sie an der richtigen Stelle standen? Ich liebe jedes einzelne Detail, jedes Ding hat seinen Platz. Jeder der acht Polster liegt an der richtigen Stelle, die kleinen Holzhocker daneben. Ich genieße die letzten Minuten, bevor es klingelt und der automatische Türöffner sein krächzendes Geräusch von sich gibt. Die sechzehn Gläser Wasser, acht große und acht kleine, stehen bereit.
Text ganz lesen …  
In Gedanken sehe ich acht Mütter und Väter auf den Pölstern sitzen. Ich lese in ihren Gesichtern, erkenne unterschiedliche Befindlichkeiten: Müdigkeit, Wachheit, Anspannung, Entspannung, Freude. Ich sehe ihre Kinder, alle im zweiten Lebensjahr, für die es hier so viel zu entdecken gibt: die unterschiedlichen Materialien mit ihren Eigenschaften, sich selbst in ihren Bewegungsmöglichkeiten, in der Begegnung mit Gleichaltrigen, die eigene Wirksamkeit auf Gegenstände, andere Menschen und die ganze Gruppe, die Nähe und Präsenz der Mutter oder des Vaters, die eigene Bedeutsamkeit.
Noch ist alles ruhig. In diesem Moment ist alles offen, nicht vorhersehbar. Ich weiß nicht, was heute während den fünfundsiebzig Minuten geschehen wird. Ich bin neugierig. Was darf ich heute wieder lernen? Was werden mich die Kinder lehren, was die Erwachsenen? Zur Ruhe gesellt sich sanfte, freudige Aufregung: Ich bin zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, umgeben von den richtigen Menschen.

Der Türöffner ertönt knarrend und die Tür springt auf, jetzt strömt Leben herein. Ich erhebe mich und begrüße die Ankommenden im Vorraum. Ich bin in meinem Element als Spielraumleiterin. Kinder kuscheln sich an ihre Eltern oder schauen mich mit offenem Blick während der Begrüßung an. Gibt es einen Blick, der offener und klarer ist als der eines Kindes? Sie werden auf die Bank gesetzt, aus den Jacken geschält, mit beschreibenden Worten begleitet, erleben das Ausziehen mit großem Interesse, so als wäre es das Wichtigste in ihrem Leben. Sie sind präsent, im Moment anwesend, denken noch nicht weiter, wissen, dass der Moment der wichtigste ist. Ebenso lassen sie den nächsten Moment zu, offen und neugierig, empfindsam dafür, wenn Erwachsene einen Moment überspringen wollen. Protest wird hörbar und sichtbar, wenn die Erwachsenen ihre Aufmerksamkeit für den Moment und das Kind verlieren. Das erinnert mich an einen Autofahrer, der kurz abgelenkt, von der Spur abkommt und ein Hupkonzert provoziert. Wie empfindsam und weise Kinder doch sind. Sie setzen alles daran, den Erwachsenen wieder ins Hier und Jetzt zurück zu bringen.

Mein Raum beginnt zu erwachen, er füllt sich mit den Ankommenden. „Welchen Platz sollen wir heute nehmen?“ fragen Mütter und Väter ihre Kinder. Langsames Ankommen ist wichtig – Zeit nehmen und Zeit geben. Ich sitze wieder im Schneidersitz auf dem Boden, zufrieden und wach, den Raum erfassend. Wohin wird mein Blick gelenkt? Habe ich schon alle Kinder und Erwachsenen bewusst gesehen? Habe ich Verbindung hergestellt?

Mein Blick fällt auf Susi. Wie in jedem Spielraum davor hat sie sich auch heute wieder ein großes Holz Auto geschnappt. Sie lässt es auf dem Boden hin und her fahren, auf der schiefen Ebene rauf und runter und hält es auch fest, während sie sich bei ihrer Mama ausruht. Es ist fast so, als wäre nicht eine Woche vergangen seit dem letzten Spielraum. Nahtlos macht sie da weiter, wo sie letztes Mal aufgehört hat.

Meine Aufmerksamkeit wandert zu Anna, die es sich auf dem Schoß ihrer Mama gemütlich macht. Sie lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Mutter und Kind beobachten das Geschehen im Raum. Das gemeinsame Schauen erinnert mich an Synchronschwimmerinnen: Fast gleichzeitig ist die Bewegung ihrer Augen, fast ident der Ausdruck in ihren Gesichtern. Ob sie das gleiche empfinden, bei dem was sie sehen?

Der fast zweijährige Clemens sitzt vor seiner Mutter Jana und greift nach dem Korb mit den Birkenhölzern. Die Birke stand einst im Garten meiner Schwiegereltern. Jedes einzelne Stück habe ich eigenhändig abgeschliffen. Der eineinhalbjährige Tino wird durch die Bewegung neugierig, nähert sich und greift zum Korb. „Nein“, höre ich Jana an Clemens gewandt vehement sprechen, während Clemens den Korb mit einem Schwung auf die Seite, immer Tino im Blick, in Sicherheit bringt. Noch fester reißt Clemens am Korb während Körper und Gesicht sich verspannen. Ich nähere mich, setze mich neben Jana, schaue Clemens an und frage ihn: „Willst du den Korb für dich alleine haben?“ Sofort entspannen sich Gesicht und Körper, er stellt den Korb ab. Intensiv beobachtet er Tino, der nun zwei Hölzer in die Hand nimmt und dabei Clemens betrachtet. Jana atmet erleichtert aus. Ihr Blick drückt Erstaunen und Erkenntnis aus. „Es genügt also, das Bedürfnis meines Sohnes in Worte zu fassen? Ich muss ihm nicht sagen, dass beide damit spielen dürfen?“ Meine bestätigenden Worte genügen. „Und wie ist das bei meinem fünfjährigen Neffen? Der will auch immer die Sachen für sich allein.“ Sie hat die Frage an ihr Inneres gerichtet. Ich lasse schweigend einen Moment Zeit. „Ja“, ist ihre Antwort, „auch er will darin bestätigt werden, dass er in dem Moment das Spielzeug für sich will.“ Clemens und Tino sitzen nun beide friedlich vor dem Korb und spielen mit den Hölzern, für sich und miteinander.

Anna klettert die Bogenleiter 3 Sprossen hinauf, hält einen Moment inne, klettert höher. Oben angekommen, schwingt sie ein Bein auf die Seite, sitz dort mit strahlendem Blick. Sie macht das heute zum ersten Mal und genießt die Sicht aus luftiger Höhe. Anmutig bringt sie die Beine zueinander, hält sich mit den Händen an einer Sprosse fest und klettert hinab. Mit einem erleichterten Ausatmen entspannt sich ihr Vater.

Mein Herz geht auf und Wärme breitet sich in mir aus. Fühlt sie sich ebenso? Anna folgt ihrem inneren Antrieb, die Welt, die sie umgibt zu erforschen. Der Bogen war schon immer da. Warum erklimmt sie ihn gerade jetzt?
Kinder offenbaren uns das Mysterium des Lebens. Wie findet Entwicklung statt? Wer oder was leitet uns an, den nächsten Schritt zu gehen, Unbekanntes auszuprobieren, neue Erfahrungen zu sammeln?
Große Dankbarkeit erfüllt mich, den Raum für diese Erfahrungen zur Verfügung zu stellen und Zeugin der Entfaltungsprozesse zu sein.


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2016.03.04

Zwei Kinder
Moses, 26 Monate, krabbelt in den Tunnel, Judith folgt ihm. Moses liegt auf dem Rücken. Judith ebenso mit ihrem Kopf vor seinen Füßen. Moses drückt mit den Füßen gegen Judiths Kopf und schiebt sie hinaus. „Mama, Mama“, ruft Judith. Ich setze mich dazu und sage: „Judith, du kannst herausrutschen. Du musst das nicht mit dir machen lassen.“ Sie hört auf zu rufen und rutscht raus. Lachend klettert sie auf den Tunnel und ein neues Spiel mit Moses beginnt.

Ein Kind, Material und ich
Moses klopft mit einem abgeschliffenen Stück Birkenholz, das gut in seiner Hand liegt, auf den Würfel aus Weichholz. Sichtlich genießt er Lautstärke und die Kraft mit der er Einkerbungen bewirkt. Ich erkenne Handlungsbedarf, streiche mit der Hand über die eingekerbte Fläche und leite ihn an, auf den Boden zu klopfen. Das interessiert ihn nicht, er klopft weiter auf den Würfel. Wieder biete ich andere Klopfmöglichkeiten an, während ich die Fläche schütze. Mit blitzenden Augen schaut er mich an und will weiter klopfen. Ich drehe den Würfel so, dass die weichen Flächen nicht mehr erreichbar sind. Aus dem Nebenraum hole ich einen Wäschekorb voll harter, großer Bausteine, stelle ihn ab, lege einige Bausteine auf den Boden und zeige, dass er da drauf klopfen kann. Das Angebot nimmt er an. Begeistert klopft er auf die unterschiedlichen Bausteine – laut, leise - er baut und klopft abwechselnd. Lautes Klopfen erfüllt den Raum. Mein Blick auf die Gruppe lässt mich erkennen, dass die Kinder weiter eigenen Aktivitäten nachgehen. Eine halbe Stunde braucht Moses, bis er sich frei geklopft hat.

Entdeckungsreise
Alice, knapp 9 Monate, rollt durch den Raum. Auf ihrem Weg begegnet sie einer Holzkugel. Alice nimmt die Kugel, legt sich auf den Rücken, betastet sie mit beiden Händen, kostet sie von allen Seiten, dreht sie immer wieder in ihren Händen, hält sie weiter weg, betrachtet sie mit Abstand, führt sie wieder zum Mund. Sie lässt die Kugel los und schaut dem Wegrollen nach. „Äh, äh“, suchend schaut sie sich um. Cathrin, ihre Mama, setzt sich in ihr Blickfeld. Mit freudigem Strahlen rollt sie sich ihr entgegen. Behutsam nimmt Cathrin ihre Tochter in den Arm und trägt sie zu ihrem Platz. Zeit zum Ausruhen, Zeit für Nähe.

Ein Kind begegnet Mutter und Kind
Ina, 24 Monate, sitzt vor ihrer Mama, Gudrun, Becher ordnend. Moses, 26 Monate, nähert sich mit einem abgeschliffenen Stück Birkenholz und klopft auf Inas Kopf. Sie schaut auf, Unsicherheit im Gesicht. Gudrun blickt Moses strahlend an. „Hier kannst du drauf klopfen“, sagt sie während sie ihre offene Handfläche anbietet. Moses klopft sanft auf die Handfläche, immer in Blickkontakt mit Gudrun. Ina beobachtet ihn genau, bis auch sie ihre Handfläche anbietet. Mit dauerndem Blickkontakt klopft Moses vorsichtig abwechselnd auf die beiden Handflächen. Satt von dieser Erfahrung wendet er sich Neuem zu.

Mutter und Kind
Leah, 12 Monate, bringt ihrer Mama Julia eine verschlossenen Plastikflasche. Julia schaut mich fragend an: „Darf ich sie aufmachen?“ „Nein“, antworte ich „ gib ihr die Möglichkeit, selbst zu probieren.“ Ich setze mich dazu. „Äh, äh“, spricht Leah, während sie auf den Verschluss zeigt.
„Das ist der Verschluss“, erkläre ich an Leah gewandt. Sie probiert ihn zu drehen und kommentiert: „Äh, äh.“ „Ja, die Flasche ist zu“, ist meine Antwort. Leah verliert das Interesse und wendet sich anderem zu. Einige Minuten danach nimmt sie die Flasche erneut, reicht sie Julia schaut sie an, dreht am Verschluss. Diesmal sitzt Julia aufrecht und beobachtet mit wachem Blick, das Probieren ihrer Tochter. Leah probiert interessiert, vertieft in die eigene Aktivität. Julia ist als Beobachterin Teil des Prozesses. Sicherheit und Verbundenheit sind spürbar.

Begegnung
Wendolin, 8 Monate, robbt in Richtung eines kleinen blauen Plastikkörbchens. Henrik ist dort mit Plastikflaschen beschäftigt. Wendolin ergreift das Körbchen und betrachtet es interessiert. Henrik wendet sich dem Geschehen zu und greift nach dem Körbchen. Beide halten das Körbchen und sehen einander an. Wendolin zieht es ein wenig zu sich, Henrik auch. Nun lockert Wendolin seinen Griff und Henrik hält es – immer in Blickkontakt mit seinem Gegenüber. Henrik bietet Wendolin das Körbchen an, zieht es wieder zurück und krabbelt ein Stück weg. Fasziniert beobachtet Wendolin in Bauchlage, abgestützt auf seinen Armen, das Geschehen. Henrik kommt zurück, reicht Wendolin das Körbchen. Als dieser es nimmt, dreht er sich um und wendet sich wieder den Flaschen zu. Wendolin vertieft sich erneut in die Betrachtung des Körbchens und klopft damit auf den Boden. Nun lässt er es los und setzt robbend seine Erkundung des Raumes fort.
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